Gerichtliche Entscheidungen über die Festsetzung des Durchschnittsentgelts gemäß § 92 SGB VII, der sog. Durchschnittsheuer oder D‑Heuer, sind rar. In einem Rechtsstreit zwischen einem Seefahrer und der BG Verkehr befand das LSG Schleswig-Holstein Anfang letzten Jahres, dass die einschlägige Beitragsübersicht rechtswidrig war. Die Ausführungen sind für die Seeschifffahrt von großem Interesse.

Sachverhalt

Der Kläger war Auszubildender in einem Betrieb der Küstenfischerei. 1994 erlitt er während seiner Tätigkeit einen Arbeitsunfall, der in der Folgezeit zu posttraumatischen Belastungsstörungen führte. 1997 gab er seine Tätigkeit als angehender Fischwirt auf. Der Kläger beantragte in 2011 die Zahlung einer Verletztenrente. Diese wurde ihm seitens der BG Verkehr bewilligt. Zur Berechnung der Verletztenrente legte die Berufsgenossenschaft wegen des geringen Verdienstes des Klägers lediglich den gesetzlichen Mindest-Jahresarbeitsverdienst (JAV) zugrunde. Gegen den Bescheid legte der Kläger erfolglos Widerspruch ein. Seine Klage vor dem Sozialgericht, mit der er begehrte, einen höheren JAV zugrunde zu legen, blieb ebenfalls ohne Erfolg. Der Kläger legte Berufung ein.

Entscheidung

Die Berufung hatte Erfolg. Die BG Verkehr wurde verurteilt, über den Antrag des Klägers auf Verletztenrente neu zu entscheiden. Das LSG stellte dabei fest, dass die einschlägige Beitragsübersicht zur Festsetzung der Durchschnittsheuern rechtswidrig war.

Der Berechnung der Verletztenrente war nicht der Mindest-JAV, sondern die Durchschnittsheuer gemäß § 92 SGB VII zugrunde zu legen. Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt als Versicherter an Bord eines Seeschiffs unter deutscher Flagge tätig. Die D‑Heuer wird von einem Ausschuss zur Festsetzung der Durchschnittsheuer bestimmt, vom Bundesamt für Soziale Sicherung genehmigt und von der BG Verkehr als Beitragsübersicht veröffentlicht.

Für den Kläger war der Bereich der Kleinen Hochsee- und Küstenfischerei maßgeblich. Die Berechnung der Durchschnittsheuer entspricht seit 1992 derjenigen in „Abschnitt G“ der Beitragsübersicht für die Kauffahrtei und Großen Hochseefischerei. Die D‑Heuer knüpft also nicht an Tariflöhne, sondern an den tatsächlich gezahlten Verdienst des Besatzungsmitglieds an.

Nach Ansicht des Landesozialgerichtes steht die damalige Festsetzung der Durchschnittsheuer für die Kleine Hochsee- und Küstenfischerei nicht im Einklang mit geltendem Recht, insbesondere § 92 SGB VII. Erforderlich sei eine abstrakt-generelle Festsetzung, losgelöst vom individuellen Verdienst des Besatzungsmitglieds. Verwaltungspraktische Erwägungen dürften nicht dazu führen, die Durchschnittsheuer nicht gesetzeskonform zu ermitteln. Aufgrund des Gestaltungsspielraums der BG Verkehr im Rahmen ihrer Selbstverwaltung sah sich das Gericht jedoch gehindert, die neue D‑Heuer selbst festsetzen. Der zuständige Ausschuss wurde aufgefordert, die Durchschnittsheuer auf Grundlage eines schlüssigen Konzeptes unter Beachtung der konkreten Vorgaben des LSG neu zu ermitteln.

Bedeutung für die Seeschifffahrt

Bedeutung für die Seeschifffahrt

Die Entscheidung ist für die Seeschifffahrt von großem Interesse, ist sie doch die erste Entscheidung eines Obergerichts über die bestehende Praxis der BG Verkehr im Zusammenhang mit der Festsetzung der Durchschnittsheuer. Die wirtschaftliche Bedeutung der Festsetzung der D‑Heuer darf dabei keinesfalls unterschätzt werden.

Die gesetzliche Regelung zur Durchschnittsheuer findet sich im Leistungsrecht der §§ 81 ff. SGB VII, welches vor allem für Versicherte interessant ist. Gemäß § 154 SGB VII sind aber auch die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung anhand der Durchschnittsheuer zu berechnen. Gleiches gilt in der Kranken- (§ 233 SGB V), Arbeitslosen- (§ 344 SGB III), Renten- (§ 163 SGB VI) und Pflegeversicherung (§ 57 SGB XI). Die Gesamtsozialversicherungsbeiträge sind Teil der Bemannungskosten, die für Reedereien nach wie vor ein wichtiger, wenn nicht gar der wichtigste Faktor für die Wahl des Schiffsregisters sind.

Kommentar

Das Urteil betrifft unmittelbar nur die für den Kläger relevante Beitragsübersicht aus dem Jahr 1997. Doch haben die Ausführungen des LSG auch Bedeutung für die gegenwärtige Praxis der Festsetzungen der Durchschnittsheuer durch die BG Verkehr.

Das Gesetz macht nur wenige Vorgaben für die Festsetzung der Durchschnittsheuer. So muss die D‑Heuer gemäß § 92 Abs. 5 SGB VII

  • im Bereich gleicher Tätigkeiten einheitlich festgesetzt werden und
  • Tarifverträge berücksichtigen.

Um welche Bereiche gleicher Tätigkeiten es sich handelt, welche Tätigkeiten gleich sind und welche nicht, inwieweit besondere Bereiche einer abweichenden Festsetzung zugänglich sind, darüber schweigt das Gesetz. Fest steht jedoch, dass der BG Verkehr wegen ihres Selbstverwaltungsrechts ein autonomer, gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Gestaltungsspielraum bei den Festsetzungen zukommt.

In Bezug auf die Berücksichtigung von Tarifverträgen sieht das LSG die Praxis der BG Verkehr zur Festsetzung der „echten“ Durchschnittsheuern in der Kauffahrtei und Großen Hochseefischerei kritisch. Die D‑Heuer wird danach grundsätzlich allein durch die Tarifentgelte aus dem HTV See bzw. den Haustarifverträgen einzelner Reedereien begründet. Die BG Verkehr habe nach Ansicht des Gerichts aber auch den Umfang der Tarifgebundenheit der Versicherten und, bei einem niedrigen Anteil tarifgebundener Seeleute, auch die durchschnittliche Heuer der nicht tarifgebundenen Seeleute zu ermitteln. Sie habe im Ergebnis die Durchschnittsheuer auf Basis der tariflichen und der nicht-tariflichen tatsächlichen Heuern festzusetzen.

Das Gericht wies den zuständigen Ausschuss der BG Verkehr an, neue Feststellungen auf Grundlage eines schlüssigen Konzeptes zu treffen. Das LSG macht hier (sehr) konkrete Vorgaben, insbesondere in Bezug auf Gegenstand, Umfang und Grenzen der notwendigen Datenerhebung sowie deren Repräsentativität, Validität und Nachvollziehbarkeit unter Beachtung mathematisch-statistischer Grundsätze.

Zwar spricht das LSG in diesem Zusammenhang von einer gesetzmäßigen Bestimmung der Durchschnittsheuer. Die Nichteinhaltung der konkreten Vorgaben begründet indes nicht automatisch die Rechtswidrigkeit einer Beitragsübersicht. Man wird das nur ausnahmsweise und bei schwerwiegender Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien annehmen können. Andernfalls wäre die Beitragsübersicht aufgrund ihrer Rechtsnormqualität, die das LSG hier offenlässt, schon bei geringfügigsten Abweichungen nichtig

Praxis-Tipp

Arbeitsunfälle an Bord sind üblicherweise vom Versicherungsschutz der P&I‑Versicherung des Schiffes erfasst. Viele Heuerverträge sehen vor, dass Seeleute infolge eines Arbeitsunfalls Entschädigungszahlungen verlangen können.  Doch Obacht – auf Schiffen unter deutscher Flagge ist nach Maßgabe der §§ 104, 107 SGB VII eine Haftung des Reeders oder Arbeitgebers kraft Gesetzes ausgeschlossen. Selbst eine ausdrücklich vereinbarte Haftung des Reeders kann diese Grundregel wohl nicht durchbrechen. Die Frage ist bislang gerichtlich ungeklärt.

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