05.04.2023

OLG Hamm – Grundsätze der Beweislastumkehr gelten im Rettungsdienst nicht nur für medizinische Behandlungsfehler

Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hat sich in seinem Urteil vom 26.10.2022 (Az. 11 U 127/21) mit den Voraussetzungen eines Amtshaftungsanspruchs aufgrund einer möglichen Pflichtverletzung durch Rettungsdienstmitarbeitende auseinandergesetzt. Das OLG überrascht in seiner Entscheidung damit, dass es die eigentlich für die Arzthaftung entwickelten Grundsätze der Beweislastumkehr anwendet und diese nicht mehr auf rein medizinische Behandlungen beschränkt.

Sollte der BGH die Entscheidung bestätigen, hätte dies weitreichende Folgen. Die Grundsätze zur Beweislastumkehr kämen dann für den gesamten Rettungseinsatz zur Anwendung und nicht nur für die medizinischen Handlungen der Rettungsdienstmitarbeitenden.

Zum Sachverhalt

Der Entscheidung des OLG Hamm lag der Sachverhalt zugrunde, dass den alarmierten Rettungskräften die unmittelbare Anfahrt des im Wald gelegenen Unfallorts durch eine Schranke versperrt wurde. Die Rettungskräfte entschieden sich daraufhin, sich zu Fuß zum Unfallort zu begeben. Der Patient, der einen Herz-Kreislauf-Stillstand erlitten hatte, wurde von den Rettungskräften reanimiert und in ein Krankenhaus eingeliefert, wo er dann schließlich verstarb.

Die Erben des Patienten verklagten daraufhin den Rettungsdienstträger, da sie der Ansicht waren, dass die Entscheidung der Rettungsdienstmitarbeitenden, sich zu Fuß auf den Weg zum Patienten zu machen, zu einer um zwei bis drei Minuten verspäteten medizinischen Versorgung geführt habe. Diese sollte wiederum ursächlich für die eingetretenen Gesundheitsschäden und damit auch für den Tod des Patienten gewesen sein.

Die Kläger vertraten in erster sowie in zweiter Instanz die Auffassung, dass die Rettungskräfte die ihnen obliegenden Berufspflichten in grober Weise verletzt hätten, weil sie sich gegen die Öffnung der Schranke entschieden hatten. Sie seien vielmehr dazu verpflichtet gewesen, einen entsprechenden Schlüssel oder Werkzeug im Rettungswagen mit sich zu führen, sodass sie die Schranke hätten öffnen und den Weg zum Patienten mit dem RTW hätten zurücklegen können.  Aufgrund dieser groben Pflichtverstöße kämen für den vorliegenden Fall die für die Arzthaftung entwickelten Grundsätze für die Beweislastumkehr zur Anwendung. In der Folge müssten nicht die Kläger beweisen, dass die Pflichtverletzung der Rettungsdienstmitarbeiter für den Tod des Patienten ursächlich gewesen ist. Die Beweislast läge stattdessen beim Rettungsdienstträger, sodass dieser beweisen müsse, dass der Tod des Patienten auch dann eingetreten wäre, wenn die Rettungsdienstmitarbeiter die Schranke geöffnet und den Weg zum Patienten mit dem RTW zurückgelegt hätten.

Die Entscheidung

Zwar hat auch das OLG Hamm – wie bereits die Vorinstanz – einen Schmerzensgeldanspruch der Kläger im konkreten Fall verneint. Denn nach einer umfangreichen Beweisaufnahme konnte das OLG nicht feststellen, dass die Rettungskräfte in diesem Fall grobe Verstöße gegen ihre Berufs- oder Organisationspflichten begangen hatten, die eine Beweislastumkehr oder zumindest eine Beweiserleichterung rechtfertigen würden.

So lehnte das OLG eine Berufspflichtverletzung mangels mitgeführten Schlüssel oder Werkzeug in den Rettungsfahrzeugen ab. Grund hierfür sei, dass keine gesetzliche Verpflichtung zur Ausstattung der Rettungsfahrzeuge nach den geltenden Vorschriften bestehe. Auch die Entscheidung der Rettungskräfte, sich fußläufig zum Unfallort zu begeben, stelle aufgrund der Umstände des Falles keinen Verstoß gegen Berufspflichten dar, sodass ein Amtshaftungsanspruch schon mangels vorwerfbarer Pflichtverletzung nicht bestehe.

Allerdings überrascht das OLG Hamm in seiner Entscheidung dann aber mit der Feststellung, dass die Grundsätze der Beweislastumkehr bei groben ärztlichen Behandlungsfehlern nicht mehr auf rein medizinische Behandlungsfehler des Rettungsdienstpersonals beschränkt sein sollen. Vielmehr sollen auch Pflichtverletzungen, die den bloßen Transport bzw. dessen Vorbereitung betreffen, vom Anwendungsbereich der Beweislastumkehr erfasst sein.

Das OLG Hamm kommt vielmehr zu dem Schluss, dass sich die bisherige Differenzierung der Rechtsprechung, dass Pflichtverletzungen, die den reinen Transport bzw. die Vorbereitung zum Transport betreffen, vom Anwendungsbereich der Beweislastumkehr ausgeschlossen sind, überholt haben soll. Nach Ansicht des OLG Hamm setzt „die Anwendbarkeit der Beweislastgrundsätze bei groben ärztlichen Behandlungsfehlern […] nicht voraus, dass das pflichtwidrige Verhalten das medizinische Vorgehen im eigentlichen Sinne, also die „Behandlung“ im medizinischen Sinne betrifft“. In der Konsequenz sind dann auch solche groben Pflichtverletzungen von der Beweislastumkehr erfasst, die lediglich die Organisation des Rettungsdienstes bzw. die reine Transportkomponente der Aufgabenerledigung betreffen.

Dementsprechend muss dann der Rettungsdienstträger bei Amtshaftungsfällen, in denen grobe Pflichtverletzungen bei Rettungsdiensteinsätzen im Raum stehen, beweisen, dass der jeweilige Schaden auch ohne die behauptete grobe Pflichtverletzung eingetreten wäre. Dieser Beweis dürfte gerade in Fällen, in denen die behauptete grobe Pflichtverletzung eine zeitliche Verzögerung zur Folge hat, nur schwer zu erbringen sein.

Folgen für die Praxis

Derzeit ist das Verfahren beim Bundesgerichtshof (BGH) anhängig. Es bleibt also abzuwarten, ob sich die Rechtsauffassung des OLG Hamm durchsetzen wird und wenn ja, wie weitreichend deren Folgen sein werden.

Wird sich die Ansicht des OLG Hamm durchsetzen, dann steht allerdings zu befürchten, dass sich die Amtshaftung des Rettungsdienstträgers deutlich ausweiten wird. Denn nach der Entscheidung des OLG Hamm käme ein Amtshaftungsanspruch nicht nur für grobe medizinische Behandlungsfehler des Rettungsdienstpersonals in Betracht, sondern praktisch für jede grobe Pflichtverletzung auf operativer oder organisatorischer Ebene. Dies gilt umso mehr, als dass das OLG Hamm als Anknüpfungspunkt für mögliche Pflichtverletzungen nicht nur auf solche Pflichten abstellt, die sich unmittelbar aus dem Gesetz, sondern auch aus DIN-Normen und internen Vorgaben wie Bestückungslisten ergeben. Bei konsequenter Anwendung der Rechtsansicht des OLG Hamm käme es dann auch in solchen Fällen zur Anwendung der Beweislastumkehr, in denen grobe Verstöße gegen die Ausstattung von Rettungsmitteln oder die im Rettungsdienstbedarfsplan festgesetzten Vorhaltezeiten im Raum stehen.

Wir werden Sie über die Entwicklung auf dem Laufenden halten!

Autoren: Daniel Bens, Rechtsanwalt, Partner und Martina Hadasch, Rechtsanwältin, Counsel