15.02.2023

Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden und begründet: Ja, Arbeitgeber haben eine gesetzliche Pflicht zur umfassenden Arbeitszeiterfassung ihrer Mitarbeiter!

Am 3. Dezember 2022 hat das Bundesarbeitsgericht („BAG“) seine lang ersehnten Entscheidungsgründe zum wohl wichtigsten und aufsehenerregendsten Beschluss des vergangenen Jahres (BAG, Beschluss vom 13. September 2022 – Az.: 1 ABR 22/21) veröffentlicht. Bereits die Pressemitteilung des vorgenannten Beschlusses hatte im September 2022 unter Arbeitsrechtlern, Arbeitgeberverbänden und Arbeitnehmervertretern für Furore gesorgt. ASD hatte zur Pressemitteilung des BAG berichtet. Furore deshalb, weil seither die Befürchtung im Raum steht, dass Arbeitgeber zu einer umfassenden Arbeitszeiterfassung ihrer Mitarbeiter verpflichtet sind und ein solches Arbeitszeiterfassungssystem – wo nicht bereits vorhanden – implementiert werden muss. Wir hatten bereits nach Veröffentlichung der Pressemitteilung vermutet, dass das BAG damit an die EuGH-Rspr. aus 2019 (EuGH, Urteil vom 14. Mai 2019 – Az.: C-55/18) anknüpfen möchte. Danach sind alle Arbeitgeber zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Zeiterfassungssystems verpflichtet. Unsere (Experts)-Vermutung hat sich (leider) bewahrheitet.

Abgesehen von wenigen Sondervorschriften (bspw.: § 10 I BinSchArbZV, § 17 MiLoG), die unmittelbar eine umfassende Arbeitszeiterfassungspflicht statuieren, dürften bisher die allerwenigsten Juristen auf dem Schirm gehabt haben, dass es bereits im deutschen Recht eine gesetzliche Grundlage für eine umfassende Arbeitszeiterfassungspflicht für Arbeitgeber gibt.

So aber das BAG! Ganz vereinfacht gesagt gilt laut BAG: Arbeitgeber müssen die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter ab sofort systematisch und vollständig erfassen – quasi egal in welcher Form.

Kurz zu den Kernaussagen des o.g. BAG-Beschlusses:

  • Bei unionsrechtskonformer Auslegung des § 3 II Nr. 1 ArbSchG existiert (bereits!) eine gesetzliche Pflicht des Arbeitgebers, ein System einzuführen und zu verwenden, mit dem Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und damit die Dauer der Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden erfasst werden müssen. Dies beziehe sich auf alle im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer gem. § 5 I BetrVG. D.h. die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt schon heute, also ohne Schonfrist für Arbeitgeber.
  • Die Arbeitszeiterfassung muss nicht zwingend elektronisch sein. Möglich sind – je nach Tätigkeit und Unternehmen – auch „old-school“-Lösungen wie Aufzeichnungen auf Papier (Stundenzettel).
  • Es ist grundsätzlich auch möglich, die Aufzeichnung der Arbeitszeit an die Arbeitnehmer zu delegieren. Es wird aber nicht genügen, wenn der Arbeitgeber ein solches Arbeitszeiterfassungssystem zur freigestellten Nutzung seinen Arbeitnehmern zur Verfügung stellt. Vielmehr muss der Arbeitgeber dafür Sorge tragen, dass von diesem System tatsächlich Gebrauch gemacht wird.

 

Da das BAG seine wegweisende Kernaussage zur umfassenden Arbeitszeiterfassungspflicht auf eine Generalklausel aus dem Arbeitsschutz stützt (vgl. § 3 II Nr. 1 ArbSchG), verwundert es auch nicht, dass viele Praxis- bzw. Detailfragen (bspw.: „Sind (bestimmte) (Klein-)Betriebe von der Arbeitszeiterfassungspflicht ausgenommen?“; „Sind Pausenzeiten auch aufzuzeichnen?“) (noch) unbeantwortet bleiben. Ganz eindeutig aus der Entscheidung lässt sich auch nicht entnehmen, ob auch für die Gruppe der leitenden Angestellten eine umfassende Arbeitszeiterfassungspflicht gilt. Auch hier wird es wohl bis zu einer eindeutigen bzw. klarstellenden Regelung durch den Gesetzgeber bei einer gewissen Rechtsunsicherheit bleiben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales („BMAS“) hat auf seiner Homepage verlautbart, dass es voraussichtlich im ersten Quartal 2023 einen praxistauglichen Vorschlag für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz machen wird.

Die Entscheidung ist umso schwieriger konkret in die Praxis umzusetzen in Zeiten, in denen sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer i.d.R. ein gemeinschaftliches Interesse an Flexibilität im Arbeitsverhältnis haben. Dies zeigt jedenfalls der allgemein erkennbare Trend in der heutigen Arbeitswelt in Richtung „remote-work“,“home-office“ oder dergleichen, aber eben auch das Bedürfnis von Arbeitnehmern, ihre Arbeitszeiten flexibel gestalten zu können.

Rechtsfolgen bei Verstoß gegen die Arbeitszeiterfassungspflicht

Derzeit gibt es keine unmittelbaren gesetzlichen Sanktionen, die bei Verstoß gegen § 3 II ArbSchG, mithin der Arbeitszeiterfassungspflicht des Arbeitgebers, einschlägig wären. D.h.  die Nichtbeachtung dieser Vorgabe ist aktuell weder bußgeldbewehrt noch stellt sie eine Ordnungswidrigkeit dar. Möglich ist aber, dass Arbeitgebern von der zuständigen Behörde Bußgeldzahlungen auferlegt werden, wenn sie z.B. trotz Erhalt einer behördlichen Anordnung zur Implementierung eines Arbeitszeiterfassungssystems untätig bleiben. Auch hier bleibt abzuwarten, inwieweit der Gesetzgeber für Änderungen bzw. Konkretisierungen sorgen wird.

Hausaufgaben für Arbeitgeber

  • Arbeitgeber sollten – ggf. in Begleitung ihrer Rechtsabteilungen / HR-Abteilungen oder auch externer Rechtsberater – ihre jeweilige betriebliche Praxis zur Arbeitszeiterfassung mit Blick auf die o.g. BAG-Rspr. näher unter die Lupe nehmen.
  • Sollte ein Betriebsrat vorhanden sein, gilt Folgendes: Betriebsräte haben ein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich des „Wie“, also der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassungspflicht. D.h. bei Implementierung eines solchen Systems bedarf es der Mitbestimmung des Betriebsrats.
  • Mit Blick auf den vom BMAS angekündigten praxistauglichen Vorschlag bzgl. der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz voraussichtlich für das erste Quartal 2023 sollten aktuell „endgültige bzw. abschließende Lösungen“ – insb. wo Betriebsräte vorhanden sind – eher vermieden werden. Solche Lösungen werden oftmals in langatmigen Verhandlungsrunden erreicht und müssten dann ggf. nach kurzer Zeit wieder über Bord geworfen werden.
  • Arbeitgeber sollten in jedem Fall darauf vorbereitet sein, ggf. Anpassungen in naher Zukunft vornehmen zu müssen – egal, ob in Form von Übergangslösungen bis der Gesetzgeber Abhilfe verschafft oder in Form von sich daran anschließenden „overall“-Lösungen.

 

Autorin: Hasine Azim