Problemstellung

§ 93 AktG weicht von den allgemein gültigen Grundsätzen der Beweislastverteilung zu Lasten des in Anspruch genommenen Vorstandsmitgliedes ab. Begründet wird dies mit der besonderen Sachnähe des Vorstands und der Vermeidung eines Beweisnotstandes auf Seiten der Gesellschaft. Die daraus folgende verschärfte Haftung von Vorstandsmitgliedern wird unter anderem durch den sog. Möglichkeitsvorbehalt teleologisch korrigiert. Die Notwendigkeit einer weiteren teleologischen Reduktion der Beweislastumkehr gemäß § 93 AktG ergibt sich jedoch in Fällen, in welchen das Vorstandsmitglied seinen Freistellungsanspruch gegen den dann direkt in Anspruch genommenen D&O Versicherer an die den Anspruch erhebende Gesellschaft abgetreten hat. Denn in dieser Konstellation entfällt die Notwendigkeit für eine Beweislastumkehr, da der in Anspruch genommene Versicherer keine besondere Sachnähe besitzt, sondern vielmehr selbst in Beweisnotstand geraten würde, der durch § 93 AktG aber gerade vermieden werden soll.

Grundsätze der Beweislastverteilung nach § 93 AktG

Nach den Grundsätzen der Zivilprozessordnung hat jede Partei die Voraussetzungen einer für sie günstigen Norm zu beweisen. Dies würde im Bereich der Haftung von Vorstandsmitgliedern dazu führen, dass die klagende Gesellschaft für das Vorliegen einer Pflichtverletzung des Vorstandsmitglieds beweispflichtig wäre. Die Gesellschaft wäre jedoch regelmäßig nicht zu einem solchen Beweis in der Lage, da sie gegenüber dem Vorstandsmitglied üblicherweise Wissensdefizite aufweist und daher in Beweisnot kommen würde. Um dem entgegenzuwirken, wurde bereits mit dem AktG von 1937 in der damaligen Fassung von § 84 Abs. 2 S. 2 (a.F. von 1937) eine Beweislastumkehr vorgesehen. Zuvor hatte die Rechtsprechung versucht, den Beweisnotstand zu verhindern, indem sie dem in Anspruch genommenen Vorstandsmitglied den Nachweis auferlegte, dass er seine Pflichten erfüllt habe. An dieser Regelung hält der heute gültige § 93 Abs. 2 S. 2 AktG fest.

Damit trifft das Vorstandsmitglied die Beweislast hinsichtlich der von ihm angewendeten Sorgfalt. Das pflichtwidrige Verhalten des Vorstandsmitglieds wird danach im Ergebnis vermutet. Zur Abwendung einer Ersatzpflicht muss das Vorstandsmitglied nachweisen, dass es die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt hat. Diese Verteilung der Beweislast verschärft die Haftung von Vorstandsmitgliedern ganz erheblich. Teilweise wird sogar von einer faktischen Erfolgshaftung gesprochen. Denn es ist bei dieser Haftungsverteilung zu Lasten des Vorstandsmitglieds zu bedenken, dass Vorstände damit insbesondere auch das non-liquet-Risiko tragen, also das Risiko der Unaufklärbarkeit.

Milderung der Beweislastumkehr des § 93 AktG

Dieser strengen Haftung von Vorstandsmitgliedern ist der BGH in seiner Rechtsprechung bereits entgegengetreten. Der BGH mildert § 93 Abs. 2 S. 2 AktG durch eine teleologische Korrektur ab. Die Beweislastumkehr soll erst dann eingreifen, wenn die Gesellschaft ein Verhalten des Vorstands nachgewiesen hat, welches als pflichtwidrig überhaupt in Betracht kommt, sich also als möglicherweise pflichtwidrig darstellt. Daraus resultiert der sog. Begriff des Möglichkeitsvorbehalts. Erst wenn dieser Nachweis durch die klagende Gesellschaft erbracht ist, hat das Vorstandsmitglied darzulegen und zu beweisen, dass es seine Pflichten nicht verletzt hat, schuldlos gehandelt hat oder der Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre.

Dieser Möglichkeitsvorbehalt ist überwiegend auf Zustimmung gestoßen, auch wenn er an sich keine Stütze im Wortlaut des § 93 Abs. 2 S. 2 AktG findet. Denn aufgrund der besonderen Beweisnähe des Vorstandsmitglieds mag zwar durchaus die Notwendigkeit bestehen, diesem eine besondere Beweislast aufzubürden. Es wäre aber beispielsweise auch die Annahme einer sekundären Beweislast auf Seiten des Vorstandsmitglieds denkbar gewesen, um der besonderen Beweisnähe gerecht zu werden. Denn jedenfalls die sich aus der Beweislastumkehr ergebende Übertragung des non-liquet-Risikos kann sich nicht mit der besonderen Beweisnähe gerechtfertigt werden.

Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion der Beweislastumkehr nach § 93 AktG bei Abtretungen

Die in § 93 Abs. 2 S. 2 AktG geregelte Beweislastumkehr kann zudem jedenfalls dann nicht gelten, wenn das Vorstandsmitglied seinen Freistellungsanspruch gegen den sodann unmittelbar in Anspruch genommenen D&O-Versicherer an die Gesellschaft abgetreten hat. In diesen Fällen ist § 93 Abs. 2 S. 2 AktG ebenfalls teleologisch zu reduzieren. Denn die Sachnähe des Beklagten, welche die Rechtfertigung für die Beweislastumkehr darstellt, ist in diesen Fällen nicht mehr gegeben.

Wird das Vorstandsmitglied von der von ihm geführten Gesellschaft in Anspruch genommen, obliegt es dem Vorstandsmitglied aufgrund seiner größeren Sachnähe, sich gegenüber der vermeintlich geschädigten Gesellschaft vom Vorwurf der Pflichtverletzung zu entlasten. Im Falle einer Abtretung des Freistellungsanspruchs des Vorstandsmitglieds aus einem Haftpflichtversicherungsvertrag an die vermeintlich geschädigte Gesellschaft (und Versicherungsnehmerin) wird die Gesellschaft in die Lage versetzt, den Versicherer direkt auf Zahlung in Anspruch zu nehmen. Damit stehen sich nach erfolgter Abtretung nicht mehr (vermeintlich) Geschädigter und Schädiger als Prozessgegner gegenüber, sondern die vermeintlich geschädigte Gesellschaft, die zugleich Versicherungsnehmer ist, und der direkt in Anspruch genommene D&O-Versicherer. In diesem Verfahren besteht eine völlig andere Interessenlage als im Ausgangsfall, weshalb auch kein Raum mehr für die Beweislastumkehr des § 93 Abs. 2 S. 2 AktG ist.

Denn anders als das Vorstandsmitglied selbst verfügt der in Anspruch genommene D&O-Versicherer gerade nicht über eine besondere Sachnähe. Dementsprechend besteht für die klagende Gesellschaft gerade keine Benachteiligung, die eine Beweisnot auslösen könnte. Ganz im Gegenteil verfügt die Gesellschaft über eine deutlich größere Sachnähe als der in Anspruch genommene D&O-Versicherer. In dieser Situation ist es vielmehr letztere, die Gefahr läuft, in Beweisnot zu geraten. Dies gilt in ganz besonderem Maße bei sogenannten freundlichen Inanspruchnahmen, wenn also die Inanspruchnahme der Vorstandsmitglieder letztlich nur dazu dient, den Freistellungsanspruch gegen den D&O-Versicherer durchzusetzen. In derartigen Fällen sind die Vorstandsmitglieder bereits deshalb der Gesellschaft zugeneigt, weil sie beispielsweise noch für die Gesellschaft tätig sind, und diese als Informationsgeber freundlich bei der Anspruchserhebung und -durchsetzung unterstützen.

Etwaige versicherungsrechtliche Auskunftsobliegenheiten gegenüber der Versicherung stellen demgegenüber gerade keine ausreichende Kompensationsmöglichkeit dar. Denn abgesehen von ihrer eingeschränkten Durchsetzbarkeit sind diese Auskunftsobliegenheiten in der Praxis bereits deshalb unergiebig, weil das freundlich in Anspruch genommene Vorstandsmitglied nach Abtretung des Freistellungsanspruchs kein eigenes Interesse an der Abwehr der Haftungsansprüche mehr hat. Es handelt sich bei Ihnen auch gerade nicht um umfassende Informationsansprüche bezüglich des haftungsrelevanten Sachverhalts, wie diese zur effektiven Abwehr unberechtigter Ansprüche aber erforderlich wären. Die Sachnähe des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds ist daher nicht mit der Auskunftsobliegenheit des Vorstandsmitglieds gegenüber dem Versicherer gleichzusetzen. Für eine Aufrechterhaltung der Beweislastumkehr fehlt es somit an der diese begründenden Interessenlage. Vielmehr besteht aufgrund der in ihr Gegenteil verkehrten Interessenlage die Notwendigkeit einer teleologischen Reduktion der Beweislastumkehr nach § 93 AktG.

Ähnliche Erwägungen müssen im Übrigen auch in Fällen angestellt werden, in welchen Ansprüche gegenüber Rechtsnachfolgern geltend gemacht werden, beispielsweise gegenüber Erben eines verstorbenen Vorstandsmitglieds. Die Erben dürften ebenfalls in der Regel nicht über eine besondere Sachnähe verfügen.

Kommentar und Ratgeber

In den Fällen, in welchen das Vorstandsmitglied seinen versicherungsvertraglichen Freistellungsanspruch gegen die sodann direkt in Anspruch genommene D&O Versicherung an die Gesellschaft abgetreten hat, kann die in § 93 Abs. 2 S. 2 AktG vorgesehene Beweislastumkehr somit nicht zur Anwendung kommen. Vielmehr ist der Anwendungsbereich der Norm teleologisch zu reduzieren. Denn eine Anwendung der Beweislastumkehr, obwohl der D&O-Versicherer gerade nicht über eine besondere Sachnähe verfügt, würde letztlich die Beweisnot einer Partei herbeiführen, die nach der ursprünglichen Beweislastverteilung gar nicht beweisbelastet ist, und die im Übrigen auch gerade nicht über die erforderliche Sachnähe verfügt. Hierdurch würde eine Situation geschaffen, die durch § 93 AktG gerade verhindert werden soll.

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