23.05.2022

Dualer Vertrieb und Fulfilment – endlich Klarheit durch die neue Vertikal-GVO

Am 1. Juni 2022 tritt die neue Gruppenfreistellungsverordnung für vertikale Vereinbarungen in Kraft (VO 2022/720, nachfolgend „neue Vertikal-GVO“). Die Europäische Kommission hat bereits die begleitenden Leitlinien für vertikale Beschränkungen verabschiedet. Die Neuregelung bringt weitreichende Änderungen u.a. im Bereich dualer Vertrieb mit sich. Die neuen Texte weichen dabei deutlich von den im Juli 2021 veröffentlichten Entwurfsfassungen ab. Wir beleuchten nachfolgend die wichtigsten Änderungen für den dualen Vertrieb.

Der duale Vertrieb hat seit dem Erlass der früheren Vertikal-GVO Nr. 330/2010 im Jahr 2010 stark an Bedeutung gewonnen. Viele Hersteller vertreiben ihre Produkte nicht nur über den Handel, sondern daneben auch direkt, typischerweise über das Internet. Die üblichen Informationspflichten des Händlers gegenüber dem Hersteller zu den abgesetzten Produkten, den erzielten Preisen etc. werfen in der dualen Vertriebssituation Fragen nach einem möglicherweise unzulässigen Informationsaustausch im Horizontalverhältnis auf, weil der Lieferant mit dem Händler auf der Handelsebene konkurriert. Die früheren Vertikal-Leitlinien enthielten keine Aussage dazu, für wir kritisch die Kommission diese mit dem dualen Vertrieb einhergehenden horizontalen Beschränkungen hielt.

Die Kommission legte in der Entwurfsfassung von 2021 eine differenzierte Regelung vor, welche die Freistellung des dualen Vertriebs zunächst an eine relativ niedrige Marktanteilsschwelle von 10% knüpfte. Diese Schwelle bezog sich auf den gemeinsamen Marktanteil auf dem Handelsmarkt, auf dem sowohl Lieferant als auch Händler präsent sind. In einem weiteren Korridor bis zu einem individuellen Marktanteil von 30% sollte der duale Vertrieb nur freigestellt sein, wenn der damit verbundene Informationsaustausch sich in den von den Horizontal-Leitlinien gezogenen Grenzen hält.

Diesen differenzierten und wegen seiner mangelnden praktischen Handhabbarkeit kritisierten Ansatz hat die Kommission in der Neuregelung zugunsten eines einheitlichen und robusteren Modells aufgegeben. Der duale Vertrieb ist nach Art. 2 Abs. 4 S. 2 lit a) der neuen Vertikal-GVO freigestellt, sofern zwei Voraussetzungen vorliegen:

  • Der Vertriebsvertrag ist nicht wechselseitig.
  • Anbieter und Abnehmer konkurrieren nur auf der nachgelagerten Stufe, d.h. als Importeur, Großhändler oder Einzelhändler. Sie konkurrieren nicht auf der vorgelagerten Stufe, auf welcher der Abnehmer die Vertragswaren bezieht. Dies kann die Ebene des Herstellers, Importeurs oder Großhändlers sein.

Die Freistellung erfasst also die typische Situation des dualen Vertriebs zwischen einem Hersteller, der über einen eigenen Direktvertrieb verfügt, und zusätzlich seine Produkte über den Handel absetzt. Für die Freistellung gilt die allgemeine Marktanteilsschwelle der Vertikal-GVO, die unverändert bei 30% liegt (Art. 3 Abs. 1).

Für den Vertrieb von Dienstleistungen ist eine parallel laufende Freistellung vorgesehen (Art. 2 Abs. 4 S. 2 lit b) der neuen Vertikal-GVO).

Der Informationsaustausch im Rahmen der dualen Vertriebsbeziehung wird nun erstmals im Rahmen einer Vertikal-GVO angesprochen, und zwar in Art. 2 Abs. 5 der neuen Vertikal-GVO. Danach partizipiert der Informationsaustausch nur an der Freistellung des dualen Vertriebs, wenn er unmittelbar die Umsetzung der vertikalen Vereinbarung betrifft. Die im Rahmen einer Vertriebsbeziehung typischerweise vom Vertriebspartner zu liefernden Absatzdaten dürfen also nun ausdrücklich ausgetauscht werden. Oftmals sind diese nach bestimmten Kriterien (Absatzgebiet, Kundengruppe etc.) aggregiert. Alle Daten, die nicht unmittelbar für das Funktionieren des Vertriebsverhältnisses erforderlich sind, dürfen hingegen nicht ausgetauscht werden. Darunter dürften kundenspezifische Informationen fallen, wie Namen, kundenspezifische Preise und Absatzmengen. Art. 2 Abs. 5 der neuen Vertikal-GVO gestattet auch den Austausch von Informationen, die zur Verbesserung der Produktion oder des Vertriebs der Vertragsprodukte erforderlich sind. Diese Informationen sind nicht direkt für die Umsetzung der Vertriebsvereinbarung erforderlich, können aber zu Effizienzgewinnen beispielsweise durch die Verbesserung von Produkteigenschaften beitragen. Zu denken ist hier an Nutzerbewertungen oder die Übertragung von Nutzungsdaten.

Die beiden Kategorien von Informationen, die in dem dualen Vertriebsverhältnis ausgetauscht werden dürfen, werden in den neuen Vertikal-Leitlinien anhand von Beispielskatalogen (Rn. 99 und 100) illustriert. Danach dürfen insbesondere folgende Informationen ausgetauscht werden:

  • Technische Daten u.a. zur Registrierung, Nutzung, Wartung oder Wiederverwertung der Vertragsprodukte, die den Lieferanten in die Lage versetzen, regulatorischen Anforderungen zu entsprechen oder das Produkt entsprechend den Bedürfnissen der Kunden weiterzuentwickeln.
  • Logistische Informationen zu Warenbeständen und zum Produktionsfluss.
  • Informationen zu den Verkäufen der Vertragsprodukte, Kundenpräferenzen und -bewertungen. Diese dürfen aber nicht zur Durchsetzung unzulässiger Gebiets- oder Kundengruppenbeschränkungen verwendet werden.
  • Preisempfehlungen und Höchstpreise des Lieferanten sowie die Abgabepreise des Abnehmers. Die Informationen zu den Abgabepreisen des Abnehmers dürfen dabei nicht zur Durchsetzung von Fest- oder Mindestpreisen genutzt werden.
  • Informationen zu Werbekampagnen.
  • Daten zur Vertriebsleistung, darunter vom Lieferanten bereitgestellte aggregierte Daten zu den Verkaufsaktivitäten anderer Vertriebspartner, sofern diese keine Identifizierung der anderen Vertriebspartner zulassen. Vom Abnehmer dürfen u.a. Daten zu den Umsätzen mit Konkurrenzprodukten verlangt werden.

Die Freistellung des Austauschs dieser Informationen steht dabei stets unter dem Vorbehalt, dass daraus keine Schlüsse auf die Preise möglich sein dürfen, zu denen der Lieferant oder der Abnehmer die Vertragsprodukte in der Zukunft auf der Vertriebsstufe anbieten wird. Auch dürfen die Informationen grundsätzlich nicht die Identifizierung individueller Kunden zulassen. Eine Ausnahme besteht nur, wenn die Information für Kundendienstleistungen erforderlich ist oder wenn einem Kunden besondere Konditionen gewährt werden sollen. Auch der Selektiv- und der Exklusivvertrieb rechtfertigen nach den Leitlinien den Austausch identifizierender Informationen zu den Kunden.

Nicht freigestellt ist auch die Abfrage von Informationen zu konkurrierenden Eigenmarken des Vertriebspartners, sofern der Lieferant nicht auch der Hersteller dieser Produkte ist.

Diese Kataloge mögen nicht alle Abgrenzungsfragen beantworten, die sich im Rahmen der erforderlichen Selbsteinschätzung ergeben werden. Dennoch sind die Kataloge ein erheblicher Gewinn an Rechtssicherheit, die zuvor in diesem Bereich fehlte.

Eng mit dem dualen Vertrieb verwandt ist das Thema Fulfilment. Hier verhandelt ein Lieferant die Preise mit einigen Endkunden direkt, verfügt aber selbst nicht über die Organisation zur Ausführung der direkt verhandelten Bestellung. Stattdessen soll ein Vertriebspartner des Lieferanten die Ausführung übernehmen. Dieser Fulfilment-Dienstleister erfährt dann vom Hersteller den vereinbarten Preis und beliefert den Kunden ansonsten wie im Rahmen seiner „normalen“ Vertriebsfunktion (Bestellannahme, Logistik, Fakturierung, Bearbeitung Reklamationen etc.).

Die frühere Vertikal-GVO äußerte sich nicht zur Zulässigkeit derartiger Konstellationen. Es war deshalb unklar, ob das Fulfilment mit dem Verbot der Bindung der Wiederverkaufspreise vereinbar ist. Die Entwurfsfassung der neuen Vertikal-Leitlinien enthielt erstmals eine Äußerung der Kommission zum Fulfilment. Danach wurde die Zulässigkeit des Fulfilment an die Voraussetzung geknüpft, dass der Kunde auf sein Wahlrecht hinsichtlich es Fulfilment-Providers verzichtet. Daneben wurde eine Risikoverteilung zwischen dem Hersteller und dem Fulfilment-Provider wie bei einem „echten“ Handelsvertreter im Sinne der Vertikal-Leitlinien verlangt.

In den neuen Vertikal-Leitlinien werden die Zulässigkeitskriterien nun vereinfacht. Eine Fulfilment-Konstellation ist zulässig, wenn der Lieferant den Fulfilment-Dienstleister auswählt. Diese Bewertung beruht auf der Überlegung, dass ein zu schützender Wettbewerb zwischen verschiedenen Vertriebspartnern nur bestehen kann, wenn der Kunde selbst den Vertriebspartner auswählen darf, über welchen er die betreffenden Produkte bezieht. Bei einer Bestimmung des Fulfilment-Dienstleisters durch den Lieferanten ist diese Wahlmöglichkeit nicht vorhanden.

Die Zulässigkeit des Fulfilment spiegelt sich auch in Rn. 100 der neuen Vertikal-Leitlinien wider. Der Austausch identifizierender Kundeninformationen wird dort in lit. (b) Nr. (1) als zulässig bewertet, wenn dem Kunden besondere Konditionen gewährt werden sollen. Diese können nur auf direkten Verhandlungen zwischen dem Lieferanten und dem Kunden beruhen. Der Informationsaustausch mit dem Fulfilment-Dienstleister darüber ist somit ausdrücklich in die Freistellung einbezogen.

Für die Praxis sind die Klarstellungen zum Fulfilment ein großer Gewinn an Rechtssicherheit. Die Kommission vollzieht hier nach, was im Vertrieb oftmals schon Realität ist.

Autor: Prof. Dr. Moritz Lorenz