Zu § 1a Abs. 1 S. 1 VVG

Mit Wirkung zum 23.02.2018 wurde mit § 1a eine neue Vorschrift in das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) eingeführt. Damit soll die Insurance Distribution Directive RL (EU) 2016/97 (IDD) umgesetzt werden. Aufgrund der für das deutsche Versicherungsrecht ungewohnten Formulierung ruft die Norm einige Unklarheiten hervor. Die verschiedenen Auffassungen zum Wortlaut der Norm reichen dabei von rein deklaratorischer Natur bis hin zu unwägbarem Risiko für Versicherer. § 1a Abs. 1 S. 1 VVG hat folgenden Wortlaut:

„Der Versicherer muss bei seiner Vertriebstätigkeit gegenüber Versicherungsnehmern stets ehrlich, redlich und professionell in deren bestmöglichem Interesse handeln.“

Problemstellung

Die neue Vorschrift erhielt zunächst überwiegend nur im wissenschaftlichen Kommentardiskurs Beachtung. Oftmals wurde der rein „deklaratorische Charakter“ der Vorschrift betont, da sich die Rücksichtnahmepflicht des Versicherers bereits aus § 6 VVG in Verbindung mit Treu und Glauben ergeben würde. Gegensätzlich dazu wird allerdings auch argumentiert, dass aus §1a VVG Schadenersatzansprüche der Versicherungsnehmer im Fall eines Verstoßes gegen anerkannte Branchen-Kodizes begründet werden könnten. Da die Norm hinsichtlich ihres Wortlauts unbestimmt formuliert ist, ergäbe sich möglicherweise ein weiter Anwendungsbereich und damit ein erhebliches Risiko für Versicherer, etwaigen Ansprüchen ausgesetzt zu werden.

Im Zusammenhang mit Entscheidungen zur Betriebsschließungsversicherung aufgrund des ersten Corona-Lockdowns wurden Gerichte mitunter auch mit § 1a VVG konfrontiert und dazu gebracht, erste Ansätze zur Auslegung der neuen Vorschrift zu entwickeln. So wurde von Seiten der Versicherungsnehmer argumentiert, es würde dem „bestmöglichen Interesse“ eines Versicherungsnehmers widersprechen, wenn hinsichtlich der Deckung der Betriebsschließungsversicherung in Bezug auf Corona – je nach Ausgestaltung der jeweiligen Vertragsbedingungen – keine sofortige Anpassung der Versicherungsbedingungen vorgenommen wird, um auch einen Betriebsausfall aufgrund des Sars-Cov-2-Virus durch die Betriebsschließungsversicherung abzudecken. Eine Beschränkung auf die häufig als Vertragsklausel vereinbarte feste Aufzählung von Krankheiten und Krankheitserregern sei – so die Argumentation einiger Versicherungsnehmer – mit Blick auf § 1a VVG nach § 307 Abs. 1 BGB unwirksam.

Urteil des OLG Stuttgart

Das OLG Stuttgart (Urteil vom 18.02.2021, 7 U 335/20) lehnte eine solche Auslegung des § 1a VVG jedoch eindeutig ab: Aus der Pflicht im „bestmöglichen Interesse“ des Versicherungsnehmers zu handeln, ergebe sich keine Pflicht zur Anpassung eigener Produkte oder zu deren Neugestaltung. Denn ein Versicherungsvertrag muss nicht derart ausgestaltet sein, dass er sich dynamisch an etwaige Änderungen von tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten anpassen müsste.

Urteil des OLG Köln

Auch nach Ansicht des OLG Köln (Urteil vom 07.09.2021, 9 U 14/21) unterliegt die Bestimmung des Umfangs des jeweiligen Versicherungsschutzes der unternehmerischen Freiheit des Versicherers. Infolge des bereits umfangreichen Katalogs der bekannten meldepflichtigen Krankheiten, welcher oftmals Bestandteil der Versicherungsbedingungen geworden ist, besteht bereits ein weiter Anwendungsbereich. Dagegen würde es – so das OLG Köln – der „Natur der Betriebsschließungsversicherung“ gerade widersprechen, wenn ein Schutz vor allen in Betracht kommenden auch bisher völlig unbekannten Krankheiten und Krankheitserregern gewährt werden müsste. Vielmehr dient es auch dem Schutz der Versicherungsgemeinschaft vor einer ausufernden Prämienbelastung, anhand des versicherten Risikos die Prämienhöhe abschätzen zu können. Letztendlich kann § 1a VVG auch nach dem OLG Köln nicht dahingehend ausgelegt werden, um eine Pflicht zur dynamischen Anpassung eigener Produkte oder zu deren Neugestaltung entstehen zu lassen.

Kommentar

Die Rechtsprechung hat der Literaturansicht, welche unter bestimmten Umständen einen Schadensersatzanspruch des Versicherungsnehmers aus § 1a VVG sehen möchte, zunächst eine klare Absage erteilt. Allerdings wird abzuwarten sein, ob im Zusammenhang mit zukünftigen Entscheidungen zur Betriebsschließungsversicherung auch eine Einschätzung des BGH zu § 1a VVG erfolgen wird und ob gegebenenfalls in anderen Fallkonstellationen erneut versucht wird, auf § 1a VVG zurückzugreifen. Die Auslegung des Wortlauts von § 1a VVG stellt für Versicherer damit eine zu verfolgende Thematik dar.

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