Der EuGH entschied, dass Arbeitgeber im sozialversicherungsrechtlichen Sinne nicht notwendigerweise diejenige Person sein muss, mit der der betroffene Arbeitnehmer, hier ein Lkw-Fahrer, einen wirksamen Arbeitsvertrag geschlossen hat. Auch ein Dritter, der wesentlichen Einfluss auf das Arbeitsverhältnis hat, kann als Arbeitgeber anzusehen sein. Dem Nicht-Vertragsarbeitgeber droht ggf. die Nachzahlung erheblicher Sozialversicherungsbeiträge. Für die Seeschifffahrt hat die Entscheidung – glücklicherweise – geringe Bedeutung.

Sachverhalt

AFMB, eine zypriotische Firma, übernahm das Flottenmanagement verschiedener Transportunternehmen in den Niederlanden. Es schloss hierzu u.a. Arbeitsverträge mit Lkw-Fahrern, die in den Niederlanden ihren Wohnsitz hatten. Die Transporte ab 2010 waren überwiegend grenzüberschreitend. Die Lkw-Fahrer gingen ihrer Tätigkeit einen großen Teil ihrer Arbeitszeit außerhalb der Niederlande nach.

Um eine A1-Bescheinigung für die Lkw-Fahrer von den zypriotischen Behörden zu erlangen, musste AFMB erst dem zuständigen niederländischen Verwaltungsrat der Sozialversicherungsanstalt (VdS) die Beschäftigung anzeigen und eine Bestätigung einholen, dass die Lkw-Fahrer nicht dem System der sozialen Sicherheit in den Niederlanden unterfielen. Der VdS stellte hierauf A1-Bescheinigungen über eine Sozialversicherungspflicht nach niederländischem Recht aus. Die von den Lkw-Fahrern und AFMB angerufenen niederländischen Gerichte legten die Angelegenheit dem EuGH zur Entscheidung rechtserheblicher Fragen vor. Eine dieser Fragen betraf die Arbeitgebereigenschaft von AFMB.

Entscheidung des Gerichts

Der EuGH entschied, dass ungeachtet der zwischen AFMB und den Lkw-Fahrern wirksam geschlossenen Arbeitsverträge AFMB nicht Arbeitgeber im sozialversicherungsrechtlichen Sinne sei, sondern die niederländischen Transportunternehmen.

Welchem Sozialversicherungssystem Arbeitnehmer in der EU unterliegen, richtet sich nach den Bestimmungen der Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Sozialen Systeme. Ergänzt wird das Regelwerk durch die Durchführungsverordnung 987/2009 sowie die Verordnung 1231/2010 in Bezug auf Drittstaatsangehörige. Der EuGH legte zudem die im Fall teilweise noch einschlägige Vorgängerregelung, die Verordnung 1408/71, zugrunde.

Für grenzüberschreitende Sachverhalte bestimmt Art. 13 der Verordnung 883/2004, welcher Mitgliedstaat zuständig ist. Entweder war der Wohnsitzmitgliedstaat der Lkw-Fahrer zuständig, wenn sie dort überwiegend tätig waren, oder der Mitgliedstaat, in dem „das Unternehmen oder der Arbeitgeber, das bzw. der sie beschäftigt, seinen Sitz […] hat“. Da die Lkw-Fahrer nicht überwiegend in den Niederlanden tätig waren, wäre aufgrund der Arbeitsverträge der Lkw-Fahrer im Grunde Zypern als Sitzstaat von AFMB zuständig gewesen.

Der EuGH folgte dem nicht. Entscheidend sei nicht notwendigerweise die Vertragslage. Es könne eine Diskrepanz zwischen der Vertragslage und den tatsächlichen Verhältnissen geben, die es rechtfertige, AFMB nicht als sozialversicherungsrechtlichen Arbeitgeber der Lkw-Fahrer im Sinne des Art. 13 der Verordnung 883/2004 anzusehen. Als Kernelement verwendet der EuGH dabei mehrfach den Begriff des „Unterordnungsverhältnisses“ (“hierarchical relationship“). Tatsächlich seien nach Ansicht des EuGH die niederländischen Transportunternehmen als Arbeitgeber der Lkw-Fahrer anzusehen.

Folgende Umstände führten zu der Würdigung des EuGH:

  • Die Lkw-Fahrer wohnten stets in den Niederlanden. Sie waren niemals auf Zypern tätig oder wohnten dort.
  • Einige Lkw-Fahrer waren zuvor bei den Transportunternehmen angestellt und gingen ihrer Tätigkeit bei AFMB nahezu unverändert weiter nach, so dass die Weisungsbefugnis weiterhin bei den niederländischen Transportunternehmen lag.
  • Die Lkw-Fahrer wurden von den Transportunternehmen vor ihrer Einstellung ausgewählt.
  • Wurden Lkw-Fahrer von den Transportunternehmen nicht mehr eingesetzt, wurden diese in der Regel sofort von AFMB entlassen, so dass eine direkte Einflussnahme naheliegt.
  • Die Lkw-Fahrer übten ihre Tätigkeit (über AFMB) für Rechnung und auf Gefahr der Transportunternehmen aus.
  • Über Provisionszahlungen trugen die Transportunternehmen in Wirklichkeit die Lohnbelastung.

Bedeutung für die Seeschifffahrt

Die Parallelen der Seeschifffahrt zum Flottenmanagement im Transportgewerbe liegen geradezu auf der Hand. Anders als im Güterkraftverkehr sind in der Seeschifffahrt Managementverträge seit langer Zeit gang und gäbe. Die Schiffe stehen im Eigentum von Einschiffsgesellschaften. Der Vertragsreeder betreibt auf Rechnung und im Namen der Einschiffsgesellschaft das Schiff. Technisches Management und Crewing werden ggf. unterbeauftragt. Die Lohnnebenkosten werden dabei am Ende in der Regel wirtschaftlich vollständig von der Einschiffsgesellschaft getragen.

Dennoch hat die Entscheidung für die Seeschifffahrt voraussichtlich keine Bedeutung. Die Verordnung 883/2004 enthält in Art. 11 (4) eine spezielle und vorrangige Regelung für die Tätigkeit an Bord von Seeschiffen unter EU-Flagge. Diese knüpft nicht an die Arbeitgebereigenschaft an, sondern – zweitrangig nach der Flagge – an den Wohnsitz des Seemanns und an den Sitz des Unternehmens, das die Heuer zahlt. Greift diese Spezialregelung nicht, etwa bei Schiffen unter der Flagge von Drittstaaten, ist oftmals der Wohnsitzstaat der Seeleute maßgeblich (vgl. EuGH, Urt. v. 08.05.2019, C‑631/17).

Kommentar

Die Bestimmung des anwendbaren Systems der sozialen Sicherheit ist bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten, insbesondere im Transportgewerbe, naturgemäß schwierig. Die Verordnung 883/2004 löst die auftretenden Konflikte entweder zugunsten des Wohnsitzstaates des Arbeitnehmers, des Sitzstaates des Arbeitgebers oder des Beschäftigungsstaates auf.

Gerade die tatsächliche Feststellung des Ortes der Tätigkeit von Lkw-Fahrern ist den Umständen des Einzelfalls unterworfen und oftmals schwierig (vgl. etwa EuGH Urt. v. 15.03.2011, C‑29/10). Insoweit hätte man sich zumindest bei der im Grunde einfach zu bestimmenden Arbeitgebereigenschaft Rechtssicherheit für die Praxis gewünscht. Denn Arbeitgeber ist, wer im Arbeitsvertrag als Arbeitgeber bezeichnet ist. Von wegen, sagt nun der EuGH. Arbeitgeber im sozialversicherungsrechtlichen Sinn kann auch ein Dritter sein.

Leider ist die Entscheidung kein Einzelfall. Schon in der „Holiday-On-Ice“-Entscheidung hat der EuGH den Begriff des „Wohnsitzes“ in der Verordnung 1231/2010 überraschend weit und entgegen dem natürlichen Wortsinn ausgelegt (EuGH Urt. v. 29.07.2019, C‑411/17).

Die Degradierung des Arbeitsvertrages zum bloßen „Indiz“ (EuGH) für die Arbeitgebereigenschaft schafft erhebliche Rechtsunsicherheit. Personalleitern sind die mit einer solchen Indizien-Rechtsprechung einhergehenden Unwägbarkeiten etwa im Zusammenhang mit der Scheinselbstständigkeit oder der Arbeitnehmerüberlassung nur allzu gut bekannt.

Müssen sich Auftraggeber im Transportgewerbe sorgen, die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer eines Dienstleisters aus dem europäischen Ausland erstatten zu müssen? Bei Flottenmanagementverträgen ist das jedenfalls nach dem Urteil aus Luxemburg nicht auszuschließen. Im Übrigen dürfte sich an der Prüfungsintensität der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei Anfragen zur Ausstellung von A1-Bescheinigungen wenig ändern.

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