Seit dem 10. Oktober 2017 gelten die Bestimmungen über Massenentlassungen nach dem deutschen Kündigungsschutzgesetz (KSchG) auch für Seeleute. Die zu Massenentlassungen ergangenen fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit (Stand: 20.10.2017) bieten dabei wenig praktische Hilfestellungen. Der Beitrag soll der Praxis einen Einblick in offene Fragen gewähren.

Die EU-Massenentlassungsrichtlinie

  • Durch die EU-Richtlinie 2015/1794 vom 6. Oktober 2015 wurden fünf EU-Richtlinien mit Bezug zum Seearbeitsrecht geändert. Eine dieser fünf Richtlinien war die Richtlinie 98/59/EG über Massenentlassungen (sog. EU-Massenentlassungsrichtlinie).
  • Die europarechtlichen Vorgaben zur Massenentlassung sind zwingend zu beachten.

Die gesetzliche Regelung in der BRD

In Umsetzung der EU-Massenentlassungsrichtlinie sieht § 24 Abs. 5 KSchG in Ergänzung zu den §§ 17 ff. KSchG Folgendes vor:

1Die Vorschriften des Dritten Abschnitts finden nach Maßgabe der folgenden Sätze Anwendung auf die Besatzungen von Seeschiffen. 2Bei Schiffen nach § 114 Absatz 4 Satz 1 des Betriebsverfassungsgesetzes tritt, soweit sie nicht als Teil des Landbetriebs gelten, an die Stelle des Betriebsrats der Seebetriebsrat. 3Betrifft eine anzeigepflichtige Entlassung die Besatzung eines Seeschiffes, welches unter der Flagge eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union fährt, so ist die Anzeige an die Behörde des Staates zu richten, unter dessen Flagge das Schiff fährt.“

Im Dritten Abschnitt des KSchG finden sich die allgemeinen Anforderungen an die Zulässigkeit von Massenentlassungen. Das sind die §§ 17 ff. KSchG.

FAQ

1) Wann liegt eine anzeigepflichtige Massenentlassung vor?

Eine Massenentlassung liegt vor, wenn innerhalb von 30 Kalendertagen

  • mehr als fünf Seeleute eines Betriebes, der in der Regel aus mehr als 20 und weniger als 60 Beschäftigten besteht,
  • 10 % der regelmäßig beschäftigten Seeleute oder aber mehr als 25 Seeleute jeweils in Betrieben, die in der Regel aus mindestens 60 und weniger als 500 Beschäftigten bestehen, oder
  • mindestens 30 Seeleute in Betrieben mit in der Regel mindestens 500 Beschäftigten,

entlassen werden.

2) Was bedeutet Entlassung?

  • Sämtliche vom Arbeitgeber veranlassten Beendigungen des Heuerverhältnisses.
  • Entlassungen sind üblicherweise arbeitgeberseitige Kündigungen oder Aufhebungsverträge.
  • Nicht umfasst: Fristlose Kündigungen oder Befristungen.

3) Auf welchen Zeitpunkt ist für die Zahl der Entlassungen abzustellen?

  • Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung
  • Abschluss des Aufhebungsvertrages

4) Wie wird der Begriff „Betrieb“ definiert?

  • Der Begriff ist europarechtlich einheitlich auszulegen.
  • Nationale Bestimmungen sind grundsätzlich unbeachtlich, sofern sie mit dem europäischen Recht nicht in Einklang stehen. Ein Rückgriff etwa auf die Definition des Seebetriebs in § 114 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) oder in § 24 KSchG verbietet sich.
  • 24 Abs. 5 S. 2 KSchG definiert nicht den Seebetrieb, sondern legt zulässigerweise das Gremium für das Konsultationsverfahren fest.
  • Der europarechtliche Begriff des „Betriebes“ ist grundsätzlich weiter als derjenige nach nationalem Recht. Kleinere Einheiten werden eher als Betrieb angesehen (vgl. BAG 13.02.2020 — 6 AZR 146/19 zu „Air Berlin“).
  • Vertretbar ist es, sowohl die Flotte als auch das einzelne Schiff als Betrieb anzusehen. In der internationalen Seeschifffahrt liegt nach der „Air-Berlin“-Entscheidung des BAG näher, auf das einzelne Schiff abzustellen.

5) Welche Verpflichtungen treffen den Reeder?

  • Der Reeder, der zugleich Arbeitgeber der Seeleute ist, hat der zuständigen Behörde eine Massenentlassung vorab anzuzeigen.
  • Ein vorhandener Seebetriebsrat oder ein für Seeleute zuständiger Landbetriebsrat, muss frühzeitig unterrichtet werden, um die Folgen der Massenentlassung für die Betroffenen abzufedern. Die Unterrichtung ist nicht identisch mit der Mitbestimmung bei Betriebsänderungen nach dem Betriebsverfassungsgesetz.
  • Eine ohne diese Maßnahmen durchgeführte Entlassung ist in der Regel unwirksam und kann von den Seeleuten vor den Arbeitsgerichten angegriffen werden.

6) Welche Anforderungen sind an die Massenentlassungsanzeige zu stellen?

Die Bundesagentur für Arbeit hat ein Formular herausgegeben. Das Einreichen einer Massenentlassungsanzeige gegenüber der zuständigen Behörde bedarf wegen der folgenschweren Konsequenzen frühzeitiger und sorgfältiger Planung und Begleitung. Bei Massenentlassung anzugeben sind mindestens:

  • Name des Arbeitgebers,
  • Sitz und Art des Betriebs der Seeleute,
  • Gründe für die beabsichtigten Entlassungen,
  • Zahl und Berufsgruppen der zu entlassenden und regelmäßig beschäftigten Seeleute,
  • Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,
  • Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Seeleute und die Berechnung etwaiger Abfindungen.

7) Gelten die Anforderungen nur auf Schiffen unter Bundesflagge?

  • Die behördliche Anzeigepflicht für Massenentlassungen besteht nicht nur auf Schiffen unter Bundesflagge oder in den Fällen, in denen das Heuerverhältnis deutschem Seearbeitsrecht unterliegt.
  • Gilt das Seearbeitsrecht eines anderen EU-Mitgliedstaates, werden entsprechende Anforderungen in der jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung festgeschrieben sein.
  • Die Regelungen zu Massenentlassungen werden von deutschen Gerichten darüber hinaus als zwingende „Eingriffsnormen“ in besonderem öffentlichen Interesse verstanden. Sie müssen dann von einem deutschen Gericht auch auf Heuerverhältnisse angewendet werden, die dem Seearbeitsrecht eines Drittstaates unterfallen.

8) Was ist bei ausgeflaggten EU-Schiffen zu beachten?

  • Soweit Seeleute auf EU-Flaggen fahren, ist die Anzeige von Massenentlassungen an die zuständige Behörde im jeweiligen EU-Mitgliedstaat der Flagge zu richten (vgl. § 24 Abs. 5 S. 3 KSchG).
  • Die örtliche Zuständigkeit im EU-Mitgliedstaat richtet sich zunächst nach dessen Rechtsordnung.

9) Was ist bei Schiffen unter Flagge eines Drittstaates zu beachten?

  • Anders als bei Schiffen unter EU-Flagge ist eine Massenentlassungsanzeige gegenüber einer Behörde im Drittstaat in der Regel nicht erforderlich.
  • Nicht auszuschließen ist, dass ggf. eine Anzeige gegenüber einer deutschen Arbeitsagentur zu erstatten ist, wenn im Falle der Entlassung von Seeleuten auf einem Schiff unter der Flagge eines Drittstaats die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 17 ff. KSchG erfüllt sind. Relevant kann das nur werden, wenn die gesamte Flotte einer Reederei und nicht nur das einzelne Schiff als Betrieb im Sinne der Massenentlassungsrichtlinie anzusehen ist.
Praxis-Tipp

Es sollte vorsorglich eine Anzeige eingereicht oder Rechtsrat im Einzelfall eingeholt werden.

10) Was gilt, wenn der Arbeitgeber eine Einschiffsgesellschaft ist?

  • Das Schiff ist üblicherweise der Betrieb.
  • Es kommt dann darauf an, ob an Bord des Schiffes die Voraussetzungen für eine Massenentlassung erfüllt sind.

11) Wie ist es, wenn der Arbeitgeber der Vertragsreeder ist?

  • Entscheidend ist, ob aufgrund der Umstände des Einzelfalls das betroffene einzelne Schiff oder die vom Vertragsreeder bereederte Flotte der Betrieb im Sinne des § 17 KSchG ist.
  • Um auf der sicheren Seite zu sein, sollten die Schwellenwerte für beide Varianten ausgerechnet werden.
  • Der Vertragsreeder besitzt in der Regel einen größeren Spielraum, den Eintritt eines Massenentlassungsereignisses gestalterisch zu vermeiden.

12) Was gilt für Ratings von einer Crewing Agency?

Ob Seeleute einer Crewing Agency für die Schwellenwerte von Massenentlassungen hinzugezählt werden müssen, ist bislang nicht abschließend entschieden. Das BAG hatte die Frage nach der Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei Massenentlassungen kürzlich dem EuGH vorgelegt, der aber letztlich hierüber nicht entscheiden musste.

13) Treffen den MLC Shipowner bestimmte Pflichten?

Nein, nicht als solchen. Die Regelung hat keinen unmittelbaren Bezug zur MLC 2006. Nur wenn der MLC Shipowner zugleich Arbeitgeber ist, hat er grundsätzlich die §§ 17 ff. KSchG zu beachten.

14) Sind die Regelungen abdingbar oder vermeidbar?

Die gesetzlichen Regelungen zu Massenentlassungen sind nicht abdingbar. Gestalterische Maßnahmen, etwa um das Vorliegen der Schwellenwerte für Massenentlassungen zu vermeiden, sind jedoch nicht ausgeschlossen und in der Praxis üblich.

Praxis-Tipp

Die Entlassungen müssen stets innerhalb von 30 Tagen erfolgen. Entlassungen „in Wellen“ unterhalb der Schwellenwerte für eine Massenentlassung bedürfen daher keiner Anzeige.

(Stand: August 2020)

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