Überblick

Auch wenn im Ergebnis das Eisenbahninfrastrukturunternehmen (EIU) für einen Schaden verantwortlich ist, haftet im Schienengüterverkehr in der Regel zunächst das Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) dem Geschädigten gegenüber.

Zu diesem Ergebnis gelangt man aufgrund der Zurechnungsnormen im nationalen Recht und im Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF).

Hintergrund dieser weitreichenden Haftungszurechnung des Verschuldens des EIU zulasten des EVU ist, dass der Geschädigte des Bahnbetriebs nicht aufgrund der rechtlichen Trennung von Fahrbetrieb und Infrastruktur schlechtgestellt werden soll.

Anschließend an die Schadensersatzzahlung kann das EVU Regress beim EIU nehmen. Alternativ kann das EVU auch schon vor Zahlung von Schadensersatz das EIU zur Freistellung von den Schadensersatzforderungen der Geschädigten auffordern.

Beispielsfall

Der Fahrdienstleiter des EIU erteilt dem Triebwagenführer des Zuges die Freigabe zur Einfahrt in den Bahnhof, ohne zuvor eine Sichtkontrolle durchzuführen. Der Zug des EVU kollidiert mit einem Hindernis, das sich – für den Fahrdienstleiter erkennbar – auf dem Gleis befindet, und entgleist. Die Güter sowie die Güterwagen, mit denen die Güter transportiert wurden, werden beschädigt.

Die Absender der transportierten Güter und die Wagenhalter der verwendeten Güterwagen machen Schadensersatzansprüche gegenüber dem EVU geltend.

Das EVU trifft keine Schuld, da der Triebwagenführer lediglich der Freigabe des Fahrtweges durch den Fahrdienstleiter gefolgt ist, und die Kollision für den Triebwagenführer nicht vermeidbar war.

Trotzdem muss das EVU den Geschädigten Schadensersatz leisten, weil das fehlerhafte Verhalten des Fahrdienstleiters des EIU dem EVU zugerechnet wird.

Dies gilt sowohl im nationalen als auch im grenzüberschreitenden Schienengüterverkehr.

Haftung des EVU im Verhältnis zum Absender

Im grenzüberschreitenden Schienengüterverkehr

Im Schienengüterverkehr innerhalb des Anwendungsbereichs des COTIF bestimmt sich die Haftung des EVU gegenüber dem Absender nach den Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern (CIM – Anhang B zum COTIF).

Gemäß Art. 40 CIM haftet der Beförderer für seine Bediensteten und für andere Personen, deren er sich bei der Durchführung der Beförderung bedient, soweit diese Bediensteten und anderen Personen in Ausübung ihrer Verrichtungen handeln. Die Betreiber der Eisenbahninfrastruktur (= EIU), auf der die Beförderung erfolgt, gelten dabei als Personen, deren sich der Beförderer bei der Durchführung der Beförderung bedient. Soweit das EIU also im Rahmen des Betriebs der Eisenbahninfrastruktur tätig geworden oder untätig geblieben ist, haftet das EVU für das EIU.

Dies ist im obigen Beispiel der Fall. Indem der Fahrdienstleiter des EIU die Einfahrt in den Bahnhof gegenüber dem Triebwagenführer freigegeben hat, ist er im Rahmen des Betriebs der Eisenbahninfrastruktur tätig geworden. Das Verschulden des Fahrdienstleiters wird dem EIU zugerechnet und das Verschulden des EIU wiederrum wird dem EVU gem. Art. 40 CIM zugerechnet.

Das EVU haftet also im grenzüberschreitenden Schienengüterverkehr für das EIU.

Im nationalen Schienengüterverkehr

Im rein nationalen Schienengüterverkehr innerhalb Deutschlands richtet sich die Haftung des EVU gegenüber dem Absender u. a. nach dem HGB.

Gemäß der Haftungszurechnungsnorm des § 428 HGB hat der Frachtführer Handlungen und Unterlassungen seiner Leute in gleichem Umfange zu vertreten wie eigene Handlungen und Unterlassungen, wenn die Leute in Ausübung ihrer Verrichtungen handeln. Gleiches gilt für Handlungen und Unterlassungen anderer Personen, deren er sich bei Ausführung der Beförderung bedient.

Das EVU nutzt zur Ausführung der Beförderung die vom EIU bereitgestellte und betriebene Eisenbahninfrastruktur, für dessen Verkehrssicherheit das EIU zu sorgen hat. Im Wege der Auslegung des Wortlauts von § 428 S. 2 HGB gelangt man daher zu dem Ergebnis, dass dieser auch das EIU erfasst.

Für den Bereich der Personenbeförderung hat der BGH die Haftungszurechnung des Verschuldens des Eisenbahninfrastrukturunternehmens zulasten des Eisenbahnverkehrsunternehmens in seinem Urteil vom 17. Januar 2012 – X ZR 59/11 (= NJW 2012, 1083) bereits bejaht.

Basierend auf den Erwägungen des BGH hat das OLG Celle die Haftung des EVU für das EIU in seinem Beschluss vom 8. Dezember 2022 − 11 U 17/22 (= RdTW 2023, 106) nun auch für den Schienengüterverkehr angenommen.

Im Beispielfall handelte der Fahrdienstleiter, dessen Verhalten dem EIU gem. § 278 BGB zugerechnet wird, auch in Ausübung seiner Verrichtung. Er ist im Rahmen des dem EIU übertragenen Aufgabenkreises tätig geworden, als er den Fahrtweg zur Einfahrt in den Bahnhof freigegeben hat.

Folglich haftet das EVU auch im nationalen Schienengüterverkehr für das EIU.

Haftung des EVU im Verhältnis zum Wagenhalter

Die Haftung des EVU gegenüber den Wagenhaltern, dessen Wagen es als Beförderungsmittel nutzt, richtet sich in der Regel nach den Einheitlichen Rechtsvorschriften für Verträge über die Verwendung von Wagen im internationalen Eisenbahnverkehr (CUV – Anhand D zum COTIF) und dem Allgemeinen Vertrag für die Verwendung von Güterwagen (AVV).

Die CUV findet Anwendung auf Verträge über die Verwendung von Eisenbahnwagen als Beförderungsmittel zur Durchführung von Beförderungen nach der CIM und CIV. Der AVV ist ein multilateraler Vertrag. Er ist Standard in der nationalen sowie internationalen Zusammenarbeit von Wagenhaltern und Eisenbahnen. Selbst wenn ein EVU oder ein Wagenhalter nicht Unterzeichner des AVV ist, werden dessen Regelungen in der Praxis häufig per Individualvereinbarung vereinbart.

Art. 9 § 1 CUV sowie Art. 28 AVV bestimmen, dassdie Parteien eines Wagenverwendungsvertrages für ihre Bediensteten und für andere Personen, deren sie sich zur Erfüllung des Vertrages bedienen, haften, soweit diese Bediensteten und anderen Personen in Ausübung ihrer Verrichtungen handeln. Art 9 § 2 CUV regelt sodann, dass die Betreiber der Eisenbahninfrastruktur, auf der das Eisenbahnverkehrsunternehmen den Wagen als Beförderungsmittel verwendet, als Personen, deren sich das Eisenbahnverkehrsunternehmen bedient, gelten, wenn die Vertragsparteien nichts anderes vereinbart haben.

Der AVV enthält keine abweichende Regelung zu Art. 9 § 2 CUV, so dass das EVU auch im Verhältnis zum Wagenhalter für das Verschulden des EIU haftet.

Für die Haftung des EVU gegenüber dem Wagenhalter nach der CUV und dem AVV hat der Oberste Gerichtshof in Wien dies in seinem Urteil vom 20. Juni 2017 – Az. 2Ob 76/17s (= RdTW 2018, 270) festgestellt.

Exkurs: Haftpflichtgesetz (HaftPflG)

Im Rahmen der Gefährdungshaftung nach dem Haftpflichtgesetz (HaftPflG) – soweit anwendbar – besteht im Regelfall eine Haftungseinheit zwischen EVU und EIU. Beide sind Betriebsunternehmer i. S. v. § 1 Abs. 1 HaftPflG. Sie haften dem Geschädigten im Außenverhältnis gemäß § 840 BGB als Gesamtschuldner, also ohne Rücksicht darauf, wer den Schaden im Einzelfall verursacht hat, wenn sich eine im Zusammenwirken von EVU und EIU begründete Betriebsgefahr verwirklicht hat. Der Geschädigte kann sich somit aussuchen, gegen wen er vorgehen will. Im Innenverhältnis zwischen EVU und EIU hängt die Ersatzpflicht sodann vom jeweiligen Verursachungsbeitrag zum Schaden ab.

Praxishinweise

1. Die Zurechnung des Verschuldens des EIU zulasten des EVU im Verhältnis zwischen Absender und EVU ist zwingend. Im Verhältnis zwischen Wagenhalter und EVU können die Vertragspartien abweichend zu Art 9 § 2 CUV regeln, dass das Verhalten des EIU dem EVU nicht zuzurechnen ist. Der AVV enthält eine solche abweichende Regelung (bisher) nicht.

2. Soweit ein Freistellungsbegehren gegenüber dem EIU im Klagewege geltend gemacht wird, ist darauf zu achten, dass der Klagantrag hinreichend bestimmt formuliert wird und ob im konkreten Fall ein Leistungs- oder ein Feststellungsantrag zulässig ist. Ein auf Freistellung gerichteter Leistungsantrag setzt u. a. voraus, dass das EVU tatsächlich mit einer Verbindlichkeit beschwert ist. Der Geschädigte muss seinen Schadensersatzanspruch also bereits gegenüber dem EVU geltend gemacht haben. Ist dies (noch) nicht der Fall, muss der Klagantrag auf Feststellung der Verpflichtung zur Freistellung lauten.

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